Die Frau des Pilatus

Von Michael Hartl

Dieser Traum, den die Frau des Pilatus in der Nacht vor der Verurteilung Jesu hatte, war sicher geistgewirkt, denn er sollte ihrem Mann zur richtigen Entscheidung verhelfen. Was wäre passiert, wenn er ihrem Einspruch nachgegeben hätte? Hätten sich der Hohe Rat und die Schriftgelehrten anstecken lassen von der Umkehr des Prokurators? Hätten sie sich in ihrem Urteil erschüttern lassen? Hätte sich ganz Israel entschieden Jesus zugewandt? Oder hätten die jüdischen Führer tatsächlich an den Kaiser appelliert und wäre somit der Prozess in die höchste Instanz verlagert worden?

Welche Folgen es auch immer gehabt hätte, eines ist sicher: Sie hätte ihren Mann Pilatus vor dem schwersten Fehler seines Lebens bewahrt; und vielleicht wäre er sogar Christ geworden, wie auch sie selbst in der wunderbaren Erzählung, die uns Gertrud von le Fort hinterlassen hat mit dem Titel „Die Frau des Pilatus“, Herder-Verlag, ISBN3-7751-3496-4.

Wir können hier nur vermuten, eines aber fällt auf: Diese Frau spürt, was kommen wird, sie ahnt es voraus, sie reagiert.

Papst Johannes Paul II hat vom „Genius der Frau“ gesprochen. Genius ist kein geläufiges Wort bei uns, aber der verwandte Begriff „genial“ schon, oder auch „Genie“. Ein Genie ist jemand, dem etwas zufliegt, der sich gar nicht so stark anstrengen muss, um in einer Disziplin Großes zu erreichen, was eine außerordentliche natürliche Begabung voraussetzt. Die zugrundeliegende Persönlichkeitsmerkmal könnte man als Genius bezeichnen.

Somit wäre zu fragen: Was ist der Genius der Frau? [Weiterlesen …]